13. Juni 2015

Tabu psychische Krankheit oder: Was ist wahre Stärke?

English: Mistrust Русский: Недоверчивый
Ein sehr skeptischer Blick: Mistrust Русский: Недоверчивый (Photo credit: Wikipedia)
Als Susanne M. (Name geändert) die Praxis betrat, war sie reserviert. Ich kenne diesen Blick bei Klienten. Es ist der Blick, der sagt, eigentlich gehöre ich hier gar nicht her. Hier sind Leute, die ganz anders sind als ich.

Dieser Blick ist ein Blick, der auf der Hut ist. Nach der Begrüßung springt er von mir weg, huscht über meine Schulter, lässt sich sich kurz im Wartebereich nieder, springt schnell zurück zum Flur, an den Türen der Gesprächsräume entlang, als ob dort gleich jemand Schreckliches herauskäme, bevor er dann in einem runden Bogen wieder nach vorne zu mir kommt.

Dieser huschende Blick kommt nicht von ungefähr. Er entspringt einer inneren Einstellung. Und die kommt auch nicht von ungefähr. Wichtige Infos über den Beginn von Coaching oder Therapie und über das, was echte Stärke ist:

Was erwarten solche Klienten in einer psychologischen Praxis zu sehen? 
  • Psychisch Gestörte mit wild rollenden Augen, denen der Geifer aus dem Mund läuft? 
  • wildgewordene Kettensägenliebhaber mit Vogelscheuchmaske? 
  • Eine Art Arkham Asylum mit dem Joker aus Batman im Behandlungszimmer?
Über seelische Leiden wird an jeder Ecke, an jedem Kiosk, in jeder Zeitschrift oder in jeder Talkshow geredet. Trotzdem fassen Betroffene ihre Situation als Makel auf.


Zum Beispiel Susanne

Susanne zum Beispiel ist 47, lebt mit ihrem Partner in einer schönen Wohnung in München und programmiert Software für Unternehmen. Und das jahrelang gut und erfolgreich. Sie hatte Spaß an ihrem Job.

Dann kam die Fusion und die bisherige Arbeitssituation verwandelte sich in ein Haifischbecken. Susanne arbeitete wie verrückt, leistete und leistete, und musste dennoch oder vielleicht gerade deshalb, erleben, wie sie im Kampf der Ellenbogen immer mehr hinausbefördert wurde. Nach vier Jahren endlich ließ sie sich helfen. Hinter ihr lagen drei Hörstürze, viele viele Termine beim Kardiologen wegen Schmerzen im Brustbereich, Schlafschwierigkeiten, Atemnot, alles immer natürlich ohne somatischen Befund. Dafür aber mit viel Angst, denn ihre Konzentrationsfähigkeit ist längst nicht mehr dieselbe. Ihre Fehlerquote auch nicht.

Warum warten Menschen so lang?

Nun, Susanne schämte sich. Lieber hielt sie durch und warf Medikamente ein. Natürlich auch mit allen Nebenwirkungen. Doch Medikamente nutzen nichts, wenn man nicht die Situation in den Griff bekommt. Was es braucht, ist:
  • die Dinge nicht mehr so wie bisher an sich heran zu lassen, 
  • mehr gesundes Gefühl für sich als Person zu entwickeln, 
  • Grenzen erkennen und sie verteidigen 
und vor allem bedeutet es: 
  • sich seinen negativen Gefühle zu stellen und gut mit ihnen umgehen, so dass sie auch wieder gehen können, anstatt einem nach Feierabend noch zu verfolgen.
Bei all dem helfen keine Medikamente. Hier ist man selber gefordert. Aber Susanne schämte sich. Wieso bloß? 
Das ist keine rhetorische Frage (ich stelle nie rhetorische Fragen!) Es ist wichtig: Was daran soll beschämend sein? Susannes Antwort:
 
"Schwach zu sein und den Anforderungen nicht genügen zu können, war mir mich tabu"



Die meisten Menschen sitzen einem Irrtum auf. 

Etwas nicht nicht mehr geregelt bekommen, ist für viele mit viel Scham besetzt. Menschen, die zur Beratung, zur Psychotherapie kommen, empfinden genau das: ich schäme mich, denn ich kriegs nicht hin. Aber im Laufe meiner Praxis habe ich folgendes herausgefunden:

In Wirklichkeit ist das nicht der Grund, warum sie sich schämen. 

Die Schamgefühle haben eine andere Quelle. Es ist die Überzeugung, wie ein erwachsener Mensch zu sein hat: autonom, selbstbewusst, unabhängig, stark.

Hätte jemand diese Überzeugung nicht, hätte er mit Situationen, in denen er nicht genügt, kein Schamgefühl. Dieses Gefühl tritt nur ein, wenn das obige Menschenbild als Massstab genommen wird. Sich schämen hat also nichts mit der Realität zu tun, sondern ist eine Folge eines bestimmten  für wahr gehaltenes Menschenbildes.

Das ist kein Plädoyer, sich kleinzumachen oder das eigene Unvermögen als normal anzusehen. Es ist nur ein Plädoyer dafür, dass die Meinung "Schwäche ist für mich tabu" weniger auf Realität fußt, sondern aus einer Glaubensüberzeugung sich speist. 

Solche Menschen sind nicht krank- so gesehen gehören sie wirklich nicht in eine therapeutische Praxis - sie haben nur eine falsche Überzeugung und die hat Folgen.


Was ich mich frage:

Es wird so viel geklagt über die emotionale Kälte in unserer Gesellschaft. Dass alles der ökonomischen Kosten-Nutzen-Rechnungen unterzogen wird, von Fallpauschalen in den Kliniken bis hin zu Beziehungen zwischen Menschen. Und gleichzeitig sind es diese Menschen, die bei sich selber jede Regung, die nach Schwäche aussieht, verbieten. Sie klagen über den mitleidlosen Umgang untereinander und sind im Umgang mit sich selbst so unbarmherzig wie es es sonst bei anderen verurteilen.

Das klingt wie Kritik: Du denkst falsch!

Machen wir uns nichts vor: Es ist Kritik. Ich äußere sie.  Denn die Wurzel des Übels liegt genau in diesem Menschenbild und ich tue den Menschen, die zu mir kommen, keinen Gefallen, wenn ich ihnen die echte Ursache veschweige. Sie bezahlen mich für Lösungen, nicht dafür, dass ich ihnen Honig ums Maul schmiere.

Solche Menschen machen bei andere Therapeuten Therapien auf Therapien, jahrelang ... Ok, Therapeuten müssen auch leben und mit Langzeitpatienten haben sie ein geregeltes Einkommen. Aber es wird sich nichts bewegen, so lange man die Quelle des Problems nicht anspricht. Ich bin anders. Ich habe ken Interesse daran, Menschen ein bis eineinhalb Jahre in Therapie zu halten. Ich möchte, dass es ihnen schnell besser geht.

Wissenschaftlich gesehen wissen wir, dass Schamgefühle sekundäre Gefühle sind, d.h. wir kennen sie nicht von Geburt an, sondern sie werden anerzogen. Niemand kann sich beim Thema Scham auf seine Gene berufen, Scham ist gelernt. Deshalb ist das Schamgefühl von Kultur zu Kultur auch so verschieden. Hinter der Scham steht immer eine Glaubensüberzeugung.

Es ist eine Ideologie, die wir fördern

Ja, ich weiss, dass viele die verkorkste Weltansicht, man dürfe sich keine Schwäche erlauben und zur Therapie zu gehen, sei eine Schwäche, fördern:
  • Es gibt im Bekanntenkreis immer die dummen Sprüche vom "Psycherl" und von der "Klappsmühle", wo man hin muss, wenn eine "Schraube locker ist". Ich weiss, dass Nachbarn tuscheln und sich vor allem dann das "Maul zerreissen", je weniger sie von der Sache verstehen. 
  • Ich weiß um die Versicherungen, die bei einer psychischen Indikation Betroffene immer als Risikoträger einstufen und mehr Prämie verlangen. 
  • Ich kenne den deutschen Staat, der zögert mit der Verbeamtung oder sie auf den St. Nimmerleinstag verschiebt. 
  • Da sind die Chefs, die damit gar nicht klar kommen und die am liebsten überhaupt nichts damit zu tun haben wollen. Unterstützt von der nächsthöreren Ebene.
Angsichts solcher Intoleranz und Unwissenheit würden sich manche lieber operieren lassen, als zum Therapeuten zu gehen.

Andererseits: Warum, wenn wir als Leitbild für uns schon Begriffe wie Autonomie, Stärke, Selbstbewusstsein in Anspruch nehmen, warum hören wir dann so sehr auf diese Pseudo-Urteiler und haben eine eigene Meinung?

Ich frage mich das häufig, aber niemand hat eine Antwort. 

Die meisten zucken nur mit den Schultern, wüssten vielleicht was zu sagen, tun es aber nicht. Manche sagen einfach, solche Fragen zu stellen, gehört sich nicht.

Jetzt bin ich leider auch Theologe

Und doppelt leider gehöre ich zu denjenigen, die an das "Evangelium" nach Mark Twain glauben. Und Mark Twain hat geschrieben:

In jede Gesellschaft gehört ein Idiot, der die naiven Fragen stellt, vor denen man selbst zurückschreckt.

Susanne jedenfalls hat´s hingekriegt. 

Mit Hypnose brachten wir ihren Körper und Geist wieder dazu, sich entspannen zu können. Mehr noch: ich führte sie in Bewusstseinszustände, die nicht nur regenerativ äusserst hilfreich sind, sondern Susanne konnte gleichzeitig eine realistischere und gute Weltsicht und entsprechend neue Umgangsformen für ihre Situation sich aneignen. 

Es war nicht einfach. 

Es ist nie einfach, die eigenen Überzeugungen aufzugeben. Selbst wenn sie destruktiv sind, halten wir gerne an ihnen fest. Wahre Stärke aber liegt aber darin, Destruktives abzustreifen. 

Echte Stärke und Autonomie

In USA habe ich eine beeindruckende Frau kennengelernt. Sie verstand sich als Priesterin und übte dies auch aus. Das Pikante war: sie tat dies in der katholischen Kirche. 

Die reagierte natürlich entsprechend und schickte ihr die Kündigung. Sie aber fühlte sich ehrlich berufen zu dem, was sie tat. Und das nicht aus oberflächlicher Stimmung.

Und dann passierte etwas, was wahrscheinlich nur in Amerika geht: Die Gemeinde trat geschlossen aus der Kirche aus, sammelte und bezahlte sie fortan als Priesterin durch die Spenden. Seitdem hat sie eine eigene Gemeinde.

Einen Satz von ihr habe ich behalten:

Ich werde nicht bejahen, was mich verneint.


Die eigenen Überzeugungen, die einem nicht gut tun, fallen zu lassen - das ist wahre Stärke.
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